Kleiner Einblick in die Geschichte des Babyschlafs oder aber: Wo kommen all die Ratschläge her?
- Katharina Schneider

- 26. Aug. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Neulich habe ich ein schönes Zitat in meinem Notizbuch gelesen:
„Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.“ Aurelius Augustinus
Wir alle sind in einer Gesellschaft groß geworden, die uns bestimmte Glaubenssätze vermittelt hat. Wir haben in unseren Familien gewisse Werte mit auf den Weg bekommen und vieles im Unterbewusstsein aufgenommen, das wir nun wiederum an unsere Kinder weitergeben. Das ist ja in jeder Generation so und zunächst einmal nichts Neues.
Als Eltern haben wir dadurch bestimmte Vorstellungen zur Erziehung unserer Kinder und gewisse Erwartungshaltungen an sie. Wir handeln in vielen Situationen so, wie wir es selbst in unserer Kindheit erfahren haben. Im Alltag mit unseren Kindern werden all diese Denkweisen aber häufig von uns auf den Prüfstand gestellt. So geht es mir zumindest. Wo es früher hieß „Lass das Kind doch mal schreien, das ist gut für die Lungen!“, meldet sich nun unser Mutter- oder Vaterinstinkt, der das Baby am liebsten sofort aufnehmen und trösten möchte.
Es dauert meist nur wenige Tage, bis sich nach der Geburt des Kindes Oma, Opa, Schwiegermutter und die Freundin melden und auch etwas zu unserem Erziehungsstil zu sagen haben. Die einen Eltern können es gekonnt ignorieren, die anderen werden unsicherer in ihren Handlungen. „Was, wenn wir das Baby wirklich verwöhnen?
Was, wenn sie Recht haben?“
Es ist auch sehr interessant, wie groß das Interesse am Schlafverhalten des Babys ist. „Und, schläft euer Kind schon durch?“ ist glaube ich die am häufigsten gestellte Frage an junge Eltern. Das würde ich wirklich gerne mal in einer Studie festhalten lassen. Ich persönlich habe mich mit der Zeit immer mehr aufgeregt, wenn ich diese Frage gestellt bekommen habe. Unser Sohn war zu dieser Zeit gerade mal ein paar Monate alt. Ich konnte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Denn es war nicht so. Mit drei Monaten, sechs Monaten und auch mit zwölf Monaten nicht! Und je öfter ich gefragt wurde, umso unsicherer und angespannter wurde ich. Was machen wir falsch? Was machen andere Eltern anders? Ich hatte das Gefühl, dass alle anderen gleichaltrigen Kinder vom ersten Tag der Geburt an durchschliefen. Zumindest behaupteten das stolz deren Eltern. (Seit der Fortbildung zum Schlafcoach weiß ich, dass das nicht so ist, dass Kinder rein von ihren physiologischen Fähigkeiten gar nicht so früh durchschlafen können, aber gut. Hätte ich das Wissen von heute doch damals schon gehabt. Und eine Bitte an den minimalen Prozentteil der Eltern, deren Kinder tatsächlich sehr früh durchschlafen: Bei diesen Gesprächsthemen in der Krabbelgruppe einfach zurücklehnen und genießen.)
Aber WOHER kommt das alles bloß? Warum sind bestimmte Glaubenssätze und Denkmuster so sehr in unserer Gesellschaft verankert, dass es wirklich schwer fällt, sich dagegen zu wehren? Warum versuchen so viele Familien den Schein aufrecht zu erhalten, dass der Schlaf ihrer Kinder gar kein Thema sei und sich zu rechtfertigen, wenn das Kind auch noch mit 5 Jahren im Elternbett schläft? Warum ist man der Meinung, dass Kinder durchschlafen und im eigenen Zimmer schlafen müssten? Diesen Fragen bin ich auf den Grund gegangen…
Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen Rückblick ins 19. Jahrhundert werfen. Die ersten Erziehungsratgeber, wie wir sie heute kennen, wurden bereits 1830 herausgegeben. Sie wurden von berühmten Medizinern und Professoren geschrieben. Zu dieser Zeit ging es aber noch nicht um Schlafprobleme oder die Art und Weise, wie man ein Kind zum Schlafen bringt, sondern beispielsweise darum, dass man die Säuglinge mit ca. einem halben Jahr an gewisse Schlafenszeiten gewöhnen und das Trinken in der Nacht ganz abschaffen sollte. Das war neu, denn bis dato schliefen die Säuglinge noch nah am Körper der Mutter im Elternbett und wurden nach Bedarf gestillt. Ab ca. 1875 rieten die ersten Autoren dazu, das Kind direkt nach der Geburt im eigenen Bettchen schlafen zu lassen, wohl aber im Zimmer der Eltern. Wenig später rückte man den Fokus auf die Gesundheit der Mütter und riet diesen, auch mal in einem anderen Zimmer zu schlafen, wenn sie dadurch die nötige Nachtruhe bekommen würden. Man hatte Angst, dass durch Übermüdung der Mütter deren Milch versiegen könnte. Generell entwickelte sich zu dieser Zeit auch die weitläufige Meinung, dass man bestimmte Zeitabstände beim Stillen einhalten sollte. Und bereits um die Jahrhundertwende erwartete man von einem sechs Monate alten Säugling, dass er durchschlafen könnte.
Richtig Fahrt nahmen die Veränderungen dann im 20. Jahrhundert auf und die Kinder wurden immer mehr als Quälgeister oder gar Tyrannen bezeichnet. Im Jahr 1933 wurde den Frauen geraten, die Kinder sobald wie möglich an eine achtstündige Nachtruhe zu gewöhnen und nur im absoluten Notfall eine Nachtmahlzeit zu gewähren. Denn eigentlich sei diese störend und überflüssig. Man war der Meinung, dass Überfütterung zu Krankheiten führen würde. Da natürlich nur die wenigsten Säuglinge durchschliefen, war das Schlafproblem entstanden und damit gab es auch die ersten Tricks, um diese zu lösen. Zu dieser Zeit allerdings beispielsweise mit Baldriantee und Zuckerwasser! Sollte all das nicht helfen, wurde die Mutter als Heldin gesehen, wenn sie dem Schreien des Kindes keine Beachtung schenkte und es auf diesem Wege nach nur wenigen Nächten zum Durchschlafen brachte. Die Härte des Nationalsozialismus zog sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche der Gesellschaft und fand eben auch seinen Niederschlag in der Kindererziehung. Erziehungsratgeber der sogenannten "Schwarzen Pädagogik" wurden von Autoritätspersonen wie Hebammen, Ärzten und Krankenschwestern an junge Eltern weitergegeben und die Theorie in Mütterschulen gelehrt. Die Erziehung der Kinder war zu einem politisch motivierten Thema geworden.
Eine Autorin dieser Zeit, die auch über die NS-Zeit hinaus sehr bekannt gewesen ist, war Johanna Haarer. Der Erziehungsratgeber der Kinderärztin war ein Bestseller zur Zeit des Nationalsozialismus und wurde hunderttausendfach verlegt. Das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, 1934 in der Erstauflage erschienen, wurde noch bis in die 1980er Jahre verlegt (seit dem Jahr 1945 in entnazifizierter Form) und prägte so eine ganze Generation. Das Buch war sehr eng an die NS-Ideologie angelehnt und ist nur ein Beispiel von vielen Werken dieser Zeit. Als ich begann, zu diesem Thema zu recherchieren und mir Zitate verschiedener Bücher durchgelesen habe, musste ich meine Arbeit zeitweise unterbrechen. Nicht vorstellbar, welche Umgangsformen dort propagiert wurden. Die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder fanden keinerlei Beachtung. Man sollte sich bloß nicht zu viel mit dem Baby beschäftigen. Sie wurden lediglich zum Stillen und zur Körperpflege aufgenommen. Die meiste Zeit verbrachten sie mit sich allein. Die Bücher dieser Autoren haben tiefe Spuren in den Köpfen unserer Vorfahren hinterlassen. Diese kann man nicht mal eben schnell verwischen und durch unsere heutigen Umgangsformen und Normen ersetzen. Schließlich ist die Zeit gerade einmal 75 Jahre her. Es dauert Generationen, bis solche Glaubenssätze aus den Köpfen der Gesellschaft verschwunden sind.
Und deshalb ist es meiner Meinung nach eine große Aufgabe für die Eltern von heute, die festgefahrenen Denkweisen aufzubrechen und wieder an die Zeit vor dieser unmenschlichen Veränderung anzuknüpfen. Einfach das tun, was wir am besten können: Auf unseren Mutter-/Vaterinstinkt und unser Bauchgefühl hören und den Bedürfnissen unserer Kinder nachgehen. Sie werden es uns danken. Und vor allem: bitte kein Kind allein im eigenen Bettchen schreien lassen! Das ist mir eine Herzensangelegenheit!
Und wenn wir Diskussionen mit Menschen älterer Generationen über die Erziehung unserer Kinder führen, lohnt sich vielleicht ein Perspektivwechsel. Denn wer weiß, wie sie Erziehung im Kindesalter erfahren haben.



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